5.2 Etablierte, aber wenig wirksame Therapien gegen Haarausfall

5.2.1 Tretinoin: Zweifelhafter Nutzen

Retinoide, zu denen auch der Wirkstoff Tretinoin gehört, sind enge Verwandte von Vitamin A. Sie sind wichtige und wirksame lokal wie systemisch angewandte Medikamente zur Behandlung von Hauterkrankungen wie schwerer Akne oder Schuppenflechte. Tretinoin wird außerdem in der Therapie einer speziellen Form der Leukämie eingesetzt.

In Berichten zu seiner Wirkung auf das Haarwachstum spielt Tretinoin eine paradoxe Rolle: Einerseits gehört diffuser Haarausfall zu den bekannten Nebenwirkungen der systemischen Behandlung mit dem Wirkstoff.[1] Andererseits werden Cremes, die Tretinoin enthalten, mitunter in Verbindung mit einer Minoxidil-Behandlung eingesetzt – offensichtlich in Erwartung von Synergieeffekten. Diese Idee war vor allem in den 1980er und 1990er Jahren bei Dermatologen verbreitet.

In der Tat gibt es einige wenige ältere wissenschaftliche Veröffentlichungen, in denen die Hypothese aufgestellt und in kleineren Studien untersucht wurde, dass eine Creme mit Tretinoin die Aufnahme von Minoxidil durch die Kopfhaut verbessert (die Rede war von einer dreifach höheren Absorption[2]).[3][4][5] Als Erklärungsversuch für die vermutete Wirkung wurde die keratolytische Wirkung von Tretinoin angeführt: Der Stoff entfernt Schuppen, reinigt verstopfte Poren und könnte damit die Haut insgesamt etwas “durchlässiger“ machen. Andererseits konnte eine 2007 veröffentliche vergleichende Untersuchung keinen Unterschied in der Wirkung von topischem Minoxidil und Minoxidil plus Tretinoin auf den Haarwuchs bei androgenetischem Haarverlust finden.[6] Weitere klinische Anwendungsstudien gibt es nicht; die Forschergemeinde hat sich nun neueren Hypothesen zugewandt.

Insofern muss der Nutzen einer lokalen Anwendung von Tretinoin in Kombination mit Minoxidil als wenn nicht diskreditiert so zumindest zweifelhaft gelten. Der wohlbekannte Zusammenhang zwischen systemischer Tretinoingabe und Haarausfall lässt die lokale Anwendung noch weniger ratsam erscheinen. Da die Creme die Haut reizt, sind unangenehme Hautreaktionen zudem nicht auszuschließen.[7][8]

5.2.2 17-α-Estradiol: Wenig untersucht und sehr wahrscheinlich auch wenig wirksam

17-α-Estradiol (auch Alfatradiol genannt) ist ein schwaches synthetisches Estrogen und ein enger Strukturverwandter des wichtigsten weiblichen Sexualhormons Estradiol. Im Gegensatz zu Estradiol hat 17-α-Estradiol jedoch nur sehr geringfügige hormonelle Wirkung. Das inaktive Hormon wird als Hemmstoff des Enzyms 5-α-Reduktase beschrieben, das Testosteron in DHT umwandelt. Diese Charakterisierung geht allerdings nur auf eine einzige Quelle zurück, in der die Wirkung des Stoffes auf 5-α-Reduktase in Rattenleber untersucht wurde.[9]

17-α-Estradiol ist Bestandteil frei verkäuflicher Tinkturen (Ell-Cranell alpha, Pantostin) zur lokalen Anwendung bei (insbesondere weiblicher) androgenetischer Alopezie. Seine Wirkung gegen Haarverluste ist insgesamt jedoch nur in wenigen Studien untersucht worden.

Zwei relativ isolierte Veröffentlichungen von 1980 und 2005 fanden, dass der Stoff nach mehrmonatiger Anwendung bei der Mehrzahl der Anwender und Anwenderinnen den Anteil der Anagenhaare erhöhte (weitere Parameter wie Haardichte oder -dicke wurden nicht untersucht).[10][11] Eine Untersuchung aus dem Jahr 2007 verglich Alfatradiol und Minoxidil – und bescheinigte Minoxidil die mit weitem Abstand bessere Wirksamkeit.[12] In dieser Untersuchung konnte Alfatradiol bei regelmäßiger Anwendung zwar weitere Haarverluste verhindern, jedoch kein neues Haar wachsen lassen.

In einer 2012 veröffentlichten Studie aus Korea erhöhte Ell-Cranell alpha bei 56 Frauen mit androgenetischer Alopezie nach acht Monaten regelmäßiger Anwendung die Anzahl der Haare auf einem Quadratzentimeter Kopfhaut von im Schnitt 323 auf im Schnitt 355 und ließ auch den im Phototrichogramm gemessenen mittleren Haardurchmesser merklich anwachsen (den Vergleich mit Placebo im Rahmen einer Doppelblindstudie – Goldstandard der wissenschaftlichen Forschung, gab es hier nicht). Das Gesamtbild des Haars wurde von den Untersuchern anhand von Fotos bei 80 Prozent der Probandinnen als leicht (40%), moderat (22%) oder erheblich (18%) verbessert beschrieben. Die Frauen selbst waren allerdings eher unzufrieden: Hier waren 66% der Meinung, das Produkt hätte alles in allem nichts gebracht.[13]

5.3 Experimentelle Therapien

5.3.1 Prostaglandin-Analoga: Wimpernserum und darüber hinaus

Latanoprost, Bimatoprost, Travoprost und Tafluprost sind Wirkstoffe, die in Form von Augentropfen zur Senkung des Augeninnendrucks bei Glaukompatienten eingesetzt werden. Ebenso wie die natürlichen Prostaglandine, die ihre im Körper vorkommenden Äquivalente sind, binden auch die synthetischen Prostaglandine an die Prostaglandinrezeptoren der Zellen. So greifen die künstlichen Gewebshormone in die Kommunikation der Zellen in Körpergeweben ein und können, abhängig vom Anwendungsort, ganz unterschiedliche Wirkungen haben.

Bei Anwendung im Auge erweitern Latanoprost und Bimatoprost die Ablaufkanäle für das Kammerwasser (die Flüssigkeit, die den vorderen Teil des Auges ausfüllt) und normalisieren so erhöhten Augeninnendruck. Ihre haarwuchsfördernde Wirkung wurde wieder einmal als Nebenwirkung entdeckt: Glaukompatienten, die Latanoprost (Handelsname u.a. Xalatan), Bimatoprost (Handelsname u.a. Lumigan) oder andere Prostaglandin-Analoga zur Augendrucksenkung regelmäßig anwenden, können sich oft über gesteigertes Wimpernwachstum und infolgedessen über längere, dichtere Augenwimpern freuen.

Wimpernseren

2008 wurde Bimatoprost in den USA unter dem Handelsnamen Latisse als rezeptpflichtiges Medikament gegen gestörtes Wimpernwachstum (Hypotrichose) zugelassen; binnen kurzem schoss dort die Anzahl der Hypotrichose-“Diagnosen“ in die Höhe. In Europa sind Bimatoprost oder Latanoprost nach wie vor nur für die Glaukombehandlung vorgesehen.

Jedoch existieren mehrere weitere, nur für kosmetische Zwecke zugelassener und offenbar nicht weniger wirksame Prostaglandin-Analoga, die von Kosmetikherstellern in sogenannten Wimpernseren eingesetzt werden. Dazu gehören die Substanzen Methylamido-dihydro-noralfaprostal (MDN), Dechloro-dihydroxy-difluoro-ethylcloprostenolamid und Isopropyl-cloprostenat. Anders, als man es von vielen Kosmetika gewohnt ist, bringen die prostaglandinhaltigen Wimpernseren tatsächlich etwas: Regelmäßig angewendet, sorgen die einmal täglich auf den Lidrand aufzutragenden Gele zuverlässig für sehr deutlich wahrnehmbare Effekte in Sachen Wachstum, Verdichtung und Dunklerfärbung der Wimpern. Diesen Wirkungen liegt eine Verlängerung der Anagenphase der Wimpernfollikel zugrunde. Wie Minoxidil müssen auch Wimpernseren regelmäßig angewendet werden, um den neuen Status Quo aufrechtzuerhalten. Beendet man die Anwendung, kehren die Wimpern mit der Zeit in ihren Ausgangszustand zurück. Zunächst kann es nach Absetzen des Präparats sogar zum verstärkten Ausfall kommen; die neuen Wimpern wachsen dann kürzer und weniger dicht nach.

Wimpernseren sind nicht nebenwirkungsfrei: Nicht selten kommt es unter anderem zu geröteten, juckenden und brennenden Augen, zu Entzündungen von Bindehaut und Lidrand, zu einer kosmetisch unerfreulichen Dunkelfärbung der Haut um die Augen, zu zeitweisen Sehstörungen und mitunter auch zu permanenten Verfärbungen der Iris. Gelegentlich werden sogar Netzhautblutungen, Aderhautentzündungen und Makulaödeme – also recht gravierende Nebenwirkungen im Inneren des Auges – beobachtet.

Eigentlich sind Kosmetika mit Prostaglandin-Analoga also eher Arzneimittel: Sie greifen recht weitgehend in Körpervorgänge ein. Es ist nicht auszuschließen, dass der deutsche Gesetzgeber prostaglandinhaltige Wimpernseren eines Tages einer näheren Prüfung unterzieht und mit Hinweis auf die Nebenwirkungen die Anwendung für rein kosmetische Zwecke untersagt. Entsprechende Kritik, zum Beispiel seitens des Bundesinstituts für Risikobewertung, liegt vor[14]; die Diskussion wird allerdings bereits seit 2011 geführt und ist bislang ergebnislos geblieben.

Prostaglandin-Analoga im experimentellen klinischen Einsatz

Es gibt mehrere kleine Studien zum Einsatz von Prostaglandin-Analoga zur Förderung des Wimpernwachstums bei kreisrundem Haarausfall (Alopecia areata). Deren Ergebnisse sind durchwachsen – sie reichen von “vollkommen wirkungslos“[15] bis “gut oder moderat wirksam bei insgesamt 45 % der Patienten“[16]. Eine Erklärung für so unterschiedliche Resultate steht noch aus.

Auch zur Behandlung der Kopfhaut bei Alopecia areata und Androgenetischer Alopezie wurden Prostaglandin-Analoga in Studien bereits mit gewissem Erfolg eingesetzt[17][18][19]; ein Übersichtsartikel von 2017 gibt der Vermutung Ausdruck, dass Bimatoprost nach Minoxidil und Finasterid das dritte Medikament sein wird, das von der amerikanischen Medizinbehörde FDA zur Behandlung von Haarverlust zugelassen werden könnte.[20]

5.3.2 Dutasterid

Dutasterid ist ein in den späten 1990er Jahren entdeckter 5α-Reduktase-Hemmer, der in Deutschland ebenso wie Finasterid zur Behandlung der gutartigen Prostatavergrößerung zugelassen ist (unter dem Handelsname Avodart), jedoch nicht zur Behandlung der androgenetischen Alopezie. Der Wirkstoff hemmt ebenfalls das Enzym 5α-Reduktase, verhindert/verlangsamt damit die Umwandlung von Testosteron in DHT und senkt den DHT-Spiegel.

Dutasterid wird in der Regel als im Vergleich mit Finasterid noch potenterer Hemmstoff charakterisiert, der auf alle drei 5α-Reduktase-Typen wirkt und mit größerer Affinität bindet als Finasterid.[21][22] Allerdings gibt es in der Fachliteratur auch anders lautende Befunde: Eine 2010 publizierte vergleichende Analyse der Wirkung von Finasterid und Dutasterid auf 5α-Reduktase II und III kam zu dem überraschenden Schluss, Dutasterid wirke im Gegenteil überwiegend auf 5α-Reduktase III, während Finasterid beide Typen des Enzyms inhibiert.[23]

In erster Linie entscheidend für die Beurteilung des Potentials von Dutasterid sind natürlich weniger in-vitro-Ergebnisse als Resultate vergleichender klinischer Studien. Die Erwartung, Dutasterid sei ein bei der Behandlung der androgenetischen Alopezie potenteres Medikament als Finasterid motivierte einige solcher Untersuchungen. In den meisten erwies sich Dutasterid gegenüber Finasterid als leicht überlegen. In mehreren sechs Monate dauernden Studien (allerdings eine relativ kurze Zeitspanne, wenn es darum geht, den Effekt eines Wirkstoffs auf den Haarwuchs zu beurteilen) stimulierte Dutasterid bei Männern mit androgenetischer Alopezie etwas mehr neuen Haarwuchs als Finasterid.[24][25][26] Darüber hinaus wirkte Dutasterid in einer kleinen Studie auch bei einigen Männern, die nicht auf Finasterid ansprachen.[27]

Dutasterid wird daher von Fachleuten als relativ viel versprechende neue Behandlungsoption bei androgenetischer Alopezie angesehen.[28] Sofern der Stoff wirklich ein potenterer Inhibitor von 5α-Reduktase ist, wären allerdings auch gravierendere Nebenwirkungen zu erwarten. Ein belastbares Urteil über Dutasterid steht daher noch aus, und deutsche Ärzte können das Medikament nur in off-label Nutzung (also jenseits der Indikationen, für die es zugelassen ist) verschreiben.

5.3.3 WAY 316606 

Jeder von der Pharmaindustrie neu entwickelte Wirkstoff bekommt zunächst einen sperrigen Codenamen. Die neueste Hoffnung ist der Stoff WAY 316606, ein Strukturverwandter des Immunsuppressivums Cyclosporin A, das bei vernarbenden Alopezien und Alopecia areata eingesetzt wird, aber erhebliche Nebenwirkungen aufweist.

Offenbar unabhängig von seiner immunsupprimierenden Wirkung hemmt Cyclosporin A die Produktion eines intrazellulären Regulators namens SFRP1, der in den Haarfollikeln den Wechsel in die Ruhephase beschleunigt, aber auch im Knochen und wahrscheinlich noch in anderen Geweben wichtige Funktionen hat. Die gleiche oder möglicherweise sogar noch eine stärkere Wirkung auf SFRP1 hat auch die von britischen Forschern (ursprünglich als Medikament gegen Osteoporose) entwickelte Substanz WAY 316606 – mit dem Vorteil, dass der Stoff die Immunfunktion des Körpers wahrscheinlich nicht oder weniger beeinträchtigt als Cyclosporin A. WAY 316606 konnte im Laborexperiment das Haarwachstum bei isolierten Follikeln deutlich stimulieren und ihre Wachstumsphase erheblich verlängern.[29][30]

Spekulationen darüber, ob mit WAY 316606 in Zukunft tatsächlich Haarwachstum ohne Reue zu haben sein wird, sind zum aktuellen Zeitpunkt allerdings noch weitgehend müßig, denn bislang wurden keinerlei in vivo-Experimente durchgeführt. Zunächst muss sich der Effekt auf Follikel in vitro als robust und reproduzierbar erweisen. Dann müssen Tierexperimente an verschiedenen Spezies untersuchen, ob der Stoff tatsächlich ohne gravierende Nebenwirkungen anwendbar ist. Im Weiteren müssen experimentelle und klinische Studien am Menschen Nebenwirkungsprofil, Anwendungsform (systemisch oder lokal) und Dosierung etablieren. Bis die Stufe der klinischen Studien erreicht ist, werden mit Sicherheit noch mehrere Jahre vergehen.

5.4 Alternative Therapien

5.4.1 Natürliche 5-alpha-Reduktase-Hemmer: Extrakt der Sägezahnpalme, Brennnessel

Es gibt eine ganze Reihe von Naturstoffen, die den Hormonstoffwechsel beeinflussen können. Im Zusammenhang mit androgenetischem Haarverlust interessant sind die natürlichen Hemmstoffe des Enzyms 5-α-Reduktase. 5-α-Reduktase wandelt Testosteron in hochaktives DHT um, und DHT ist nach der aktuell allgemein akzeptierten Hypothese zu den Ursachen des androgenbedingten Haarausfalls verantwortlich für die Miniaturisierung der Follikel, die das Kopfhaar schütter werden lässt.

Mit Finasterid (verschreibungspflichtig) steht ein wirkungsvolles Medikament zur Verfügung, das den Haarverlust bei der überwiegenden Mehrzahl der Anwender stoppen und in vielen Fällen auch rückgängig machen kann. Angesichts eines kleinen, aber realen Risikos gravierender Nebenwirkungen ist allerdings nicht jedem so ganz wohl dabei, viele Jahre lang regelmäßig ein Medikament einzunehmen, das so tief in den Hormonhaushalt eingreift wie Finasterid: Die Umwandlung von Testosteron in DHT ist ein normaler physiologischer Vorgang, der im Körper eine Reihe von keineswegs vollständig aufgeklärten biologischen Funktionen hat.

Wer einerseits etwas gegen den Haarausfall tun möchte, andererseits aber Angst vor Nebenwirkungen hat, greift gern zu natürlichen Präparaten. Naturmittel werden oft als schonender angesehen, man traut ihnen eher eine behutsame Neujustierung des biologischen Gleichgewichts zu als einem synthetischen Stoff. Wie realistisch diese Wahrnehmung ist, sei dahingestellt ... natürlich ist nicht jeder Naturstoff automatisch schonend: einige der potentesten Gifte und Karzinogene sind zum Beispiel reine Naturstoffe. Aber da unsere Körper und die sie umgebende Natur sich evolutionär in enger Verflechtung entwickelt haben, ist die Erwartung, in der “Apotheke der Natur“ Dinge zu finden, die gut für uns sind, sicher nicht ganz unbegründet.

Im Folgenden haben wir einige Naturprodukte mit nachgewiesener Wirkung auf 5-α-Reduktase zusammengetragen. Viele dieser traditionellen Heilpflanzen sind seit Jahrtausenden zur Behandlung der unterschiedlichsten Leiden im Einsatz und wurden im Rahmen der Prostatamedizin erstmals systematisch untersucht: Auch in der Therapie der gutartigen Prostatavergrößerung spielt ja die Senkung des DHT-Spiegels eine wichtige Rolle. Auf ihren Nutzen bei androgenbedingtem Haarausfall wurden etliche dieser Naturprodukte noch nicht oder nur in Tierexperimenten getestet. Die vorhandene Wirkung auf 5-α-Reduktase lässt jedoch vermuten, dass es einen solchen Nutzen auch beim Menschen geben könnte.

Gleich zu Beginn sei gesagt: Bislang wurde kein Mittel gefunden, das die Erfolge von Finasterid auch nur annähernd reproduzieren könnte. Hinsichtlich der Nebenwirkungen der meisten Naturprodukte ist das letzte Wort noch nicht gesprochen: In der Regel wurden diese Mittel gar nicht so extensiv getestet, dass überhaupt Aussagen zum Nebenwirkungsprofil möglich wären. Im deutlichen Gegensatz zu den zahlreichen Studien, die zu den etablierten Therapieansätzen gegen androgenetische Alopezie vorliegen, stammt die Evidenz zur Wirksamkeit der im Folgenden aufgelisteten Naturmitteln nicht selten aus nur zwei oder drei Laboruntersuchungen oder kleinen, an eher exotischen Orten durchgeführten Studien, die zudem nicht immer den strengsten Anforderungen an eine gute Studie (placebokontrollierte Doppelblindstudie) genügen.

Zu den bislang mit positivem Erfolg auf ihre Wirkung als Hemmstoffe der 5-α-Reduktase getesteten Pflanzenextrakten gehören:

  • Ganoderma lucidum (Reishi, ein unter anderem aus der asiatischen Medizin bekannter Pilz): hemmt 5-α-Reduktase[31], wirksam bei Prostataleiden[32]
  • Urtica dioica (Brennnessel): hemmt 5-α-Reduktase[33], hilft bei Prostataleiden [34]
  • Pygeum africanum (Afrikanischer Pflaumenbaum): hemmt 5-α-Reduktase[35], wirksam bei Prostataleiden[36]
  • Pedalium murex: traditionell angewendet und im Tierexperiment nachgewiesen wirksam gegen Prostatavergrößerung (in der einzigen veröffentlichten Studie allerdings in Kombination mit anderen Pflanzenextrakten in einem Präparat namens Prostane)[37], hemmt 5-α-Reduktase[38]
  • Sphaeranthus indicus: traditionell angewendet und im Tierexperiment nachgewiesenermaßen wirksam gegen Prostatavergrößerung[39], hemmt 5-α-Reduktase[40]
  • Populus nigra (Schwarzpappel): hemmt 5-α-Reduktase[41], in einem Kombinationspräparat mit Pulsatilla pratensis (Eviprostat) wirksam gegen Prostatavergrößerung[42]
  • Linum usitatissumum (Flachs): senkt im Tierexperiment den DHT-Spiegel (vermutlich via Hemmung der 5-α-Reduktase)[43] und fördert das Haarwachstum bei Kaninchen[44]

Heilpflanzen mit inhibitorischer Wirkung auf 5-α-Reduktase, deren Wirkung bei androgenetischem Haarverlust bereits untersucht wurde:

  • Serenoa repens (Sägezahnpalme): Auf dem Gebiet der Behandlung androgenbedingten Haarausfalls eine der großen alternativmedizinischen Hoffnungen der letzten Jahre. Die Wirksamkeit des öligen Extrakts der Beeren der Sägezahnpalme wurde in mehreren Studien mit recht positiven Ergebnissen getestet[45][46][47]
  • Rosmarinus officinalus (Rosmarin): Im Tierexperiment wirksam gegen künstlich induzierten androgenbedingten Haarverlust, wirksamer Hemmstoff der 5-α-Reduktase[48], nach sechsmonatiger lokaler Anwendung ähnlich wirksam wie Minoxidil[49]

Ferner liefen:

  • Kürbiskernöl: In einer koreanischen Studie zeigte die sechsmonatige Supplementierung mit Kürbiskernöl im Vergleich mit Placebo bei Männern mit androgenetischer Alopezie einen positiven Effekt auf Dichte und Dicke des Kopfhaars[50]
  • Grüntee: Katechine aus grünem Tee hemmen 5-α-Reduktase[51], und ein grünteehaltiges Supplement (Forti5) wurde in einer sechsmonatigen, sehr kleinen Studie (nur zehn Probanden) für wirksam gegen androgenbedingten Haarausfall befunden.[52]
  • Curcuma aeruginosa: wurde in einer Studie in Kombination mit Minoxidil mit Placebo verglichen und für wirksam befunden – ein Vorgehen ohne jeden Erkenntnisgewinn, interessant wäre ja eher der Vergleich Curcuma – Placebo bzw. Curcuma – Minoxidil – Placebo[53]
  • Cuscuta reflexa (eine in der indischen Medizin vielfach genutzte parasitische Pflanze): Im Tierexperiment wirksam gegen künstlich induzierten androgenbedingten Haarverlust[54]
  • Ecklonia cava (eine essbare Braunalge): hemmt 5-α-Reduktase und fördert den Haarwuchs im Tierexperiment und bei isolierten humanen Follikeln[55][56]
  • Thuja occidentalis (Thuja): hemmt 5-α-Reduktase und zeigt im Tierexperiment haarwuchsfördernde Wirkung bei androgenbedingten Haarverlust[57][58]
  • Citrullus colocynthis (Koloquinte, ein giftiges Kürbisgewächs): wurde im Tierexperiment bei Mäusen mit künstlich induzierter androgenetischer Alopezie erfolgreich getestet[59]

Extrakte einiger der aufgelisteten Heilpflanzenextrakte sind Bestandteile frei verkäuflicher Nahrungsergänzungsmittel oder Haarpflegeprodukte, andere dürften im Spezialhandel erhältlich sein. Vor der Anwendung empfiehlt sich gründliche Recherche hinsichtlich der sinnvollsten Anwendungsform und die Konsultation mit dem Hausarzt oder Dermatologen.

Beim Ausprobieren dieser Mittel sollten Sie mindestens ebenso viel Geduld aufbringen wie bei der Anwendung von Minoxidil oder Finasterid: Sichtbare Wirkungen sind kaum vor einem halben Jahr regelmäßiger Anwendung zu erwarten.

5.4.2 Phytohormone bei weiblichem androgenbedingtem Haarverlust

Bei weiblichem androgenbedingtem Haarverlust können pflanzliche Antiandrogene eine Alternative zur Behandlung mit synthetischen Antiandrogenen sein.

Zu den Antiandrogenen gehören die im vorigen Abschnitt behandelten Hemmstoffe der 5α-Reduktase: Sie blockieren die Synthese des potenten Androgens DHT, senken so den DHT-Spiegel und sind so eine der wichtigsten Behandlungsstrategien bei androgenbedingtem Haarverlust.

Andere Pflanzen enthalten Wirkstoffe, die den Testosteronspiegel (und auf diesem Weg auch den Spiegel des Testosteron-Abkömmlings DHT) senken können. Zu diesen Wirkstoffen gehören die sogenannten Phytoestrogene – Pflanzenstoffe mit Estrogenaktivität, sowie Hemmstoffe der Testosteronsynthese. In kleineren klinischen Studien in ihrer Wirkung auf den Testosteronspiegel untersucht wurden bereits Glycyrrhiza (Süßholzwurzel, Lakritz), Paeonia lactiflora (chinesische Pfingsrose), Foeniculum vulgare (Fenchel) und Trigonella foenum-graecum (Bockshornklee).[60][61] Zu den phytoestrogenreichen Heilpflanzen gehören weiterhin Krauseminze, Soja, Rotklee und Gerste.

Einige dieser pflanzlichen Substanzen stehen mittlerweile auch in extrahierter und konzentrierter Form als Nahrungsergänzungsmittel-Präparate zur Verfügung. Die wissenschaftliche Evidenz für Wirksamkeit und Nebenwirkungsprofil dieser Präparate ist allerdings noch unvollständig, und Experten raten angesichts der unklaren Relation von Nutzen und Risiko eher zur Vorsicht.[62] Sprechen Sie mit Ihrem Hausarzt, Frauenarzt oder Dermatologen, bevor Sie Nahrungsergänzungsmittel mit antiandrogener Wirkung einnehmen. Gegen die Aufnahme in moderaten Mengen und in natürlicher Form – also als Nahrungsmittel oder Teegetränk – spricht dagegen vom aktuellen Standpunkt aus nichts.

5.4.3 Viviscal (& Co.)

Viviscal ist eine Serie von Produkten zur Förderung des Haarwachstums, deren Herzstück ein Nahrungsergänzungsmittel in Tablettenform ist. Im Grunde unterscheidet sich Viviscal nicht wesentlich von anderen frei verkäuflichen Mitteln, die ähnliche Versprechungen machen. Viviscal, Pantovigar, Ell-Cranell, Priorin und diverse andere Produkte enthalten Mineralstoffe und Vitamine, Proteine und/oder Aminosäuren, ungesättigte Fettsäuren und/oder Antioxidantien aus natürlichen Quellen, und es gibt eigentlich keinen Grund anzunehmen, dass diese Substanzen gegen Haarausfall sonderlich wirksam sein könnten. In der Inhaltsstoffliste von Viviscal findet sich als Alleinstellungsmerkmal der sogenannte “AminoMar-Marinekomplex“, dazu einige Vitamine, Mineralstoffe und Aminosäuren. Der “Marinekomplex“ wird als Mischung aus pulverisiertem Haifischknorpel und Austernextrakt beschrieben.

Austern sind reich an Zink und Protein, Haifischknorpel ist ein von Fachleuten als unwirksam beschriebenes Nahrungsergänzungsmittel, das vorbeugend gegen Krebs und bei arthritischen Beschwerden wirken soll[63]. Warum genau diese beiden Naturstoffe nun das Haarwachstum so besonders fördern sollen, können Ihnen vermutlich auch die Hersteller von Viviscal nicht erklären (und was Greenpeace und Sea Shepherd dazu sagen, dass Haie für Nahrungsergänzungsmittel zweifelhafter Wirksamkeit pulverisiert werden, können Sie sich sicher auch denken) – aber das Produkt hat immerhin durch einige in Fachzeitschriften veröffentlichte Studien auf sich aufmerksam gemacht.

Kleine Gruppen von Viviscal-Anwenderinnen mit diffusem Haarverlust zeigten in zwei 2012 und 2015 veröffentlichten Studien nach sechs bzw. drei Monaten eine signifikante Zunahme der Haardichte im Vergleich zu einer jeweils mit Placebo behandelten Kontrollgruppe.[64][65] Eine kleine Studie von 2016 demonstrierte ähnliche Effekte bei einigen jungen Männern mit androgenetischem Haarausfall.[66] Die drei Untersuchungen scheinen sorgfältig durchgeführt worden zu sein und sind von recht eindrucksvollen Fotos begleitet. Sie kranken lediglich an der engen Assoziation mit Lifes2Good, dem Hersteller von Viviscal, der die Studien in Auftrag gab und finanzierte, und an ihrer Isoliertheit: Keine unabhängige Studie war bislang in der Lage, so signifikante Erfolge (angeblich um fast 40 % erhöhte Haardichte!) mit einem bloßen Nahrungsergänzungsmittel zu belegen. Der Hinweis, dass die drei Viviscal-Studien in sogenannten Open Access-Magazinen veröffentlicht wurden, bei denen Autoren für die Publikation bezahlen und die Inhalte wesentlich weniger streng überprüft werden als bei klassischen Fachzeitschriften, sei gestattet.[67]

5.4.4 Vitamine, Mineralstoffe, Fettsäuren und Aminosäuren als Nahrungsergänzungsmittel

Zink, Eisen, Vitamine, ungesättigte Fettsäuren und Aminosäuren gehören zu den Bestandteilen vieler als haarwuchsfördernd vermarkteter Nahrungsergänzungsmittel. Das bedeutet jedoch keinesfalls, dass der Nutzen einer solchen Supplementierung bei Personen, die sich normal und ausreichend ernähren, wissenschaftlich belegt wäre. Näheres dazu erfahren Sie in einem eigenen Abschnitt.

Quellenangaben

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